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Selbstorganisation

 

Selbstorganisation – Hype oder Zukunftsmodell?

Gute Frage! Oder anders gefragt: Wie wäre die Zukunft ohne Selbstorganisation, also wenn wir nicht lernen uns selbst zu organisieren?
Lassen Sie uns zur Beantwortung der Fragen auch mal den aktuellen Stand anschauen. In den meisten Unternehmen gibt es eine pyramidale Führungsstruktur. Diese Struktur regelt, wer was entscheidet und wer was ausführt. Einzelne entscheiden über die Arbeit von mehreren und tragen den Löwenanteil der Verantwortung für die erfolgreiche Umsetzung. Entscheidungen werden von Einzelpersonen getroffen, werden aber häufig hochdelegiert. Das verlangsamt die Reaktionsgeschwindigkeit auf akute Anforderungen und sorgt aus verschiedenen Gründen für Missstimmung bei den Mitarbeitenden.
Aktuell steigt das Bedürfnis, aus dieser autokratischen Führungsstruktur auszubrechen und eine agilere Organisationsform anzunehmen.

 

Was ist Selbstorganisation?

Selbstorganisation kann viele Gestalten annehmen. Im Grunde geht es darum, dass sich Teams auf sich ändernde Begebenheiten und Situationen anpassen und selbst organisieren können. Es gibt auch eine Struktur, die meist aus dem System selbst (also von den in der Organisation arbeitenden Mitarbeitenden) entwickelt wird.

Es gibt klare Strukturen, Verantwortlichkeiten und Entscheidungskompetenzen und die Mitglieder können innerhalb dieser handeln kann. Das allein ist jetzt noch kein großer Unterschied zu klassisch geführten Unternehmen. Der große Unterschied ist nun, dass alle Beteiligten in dieser Struktur innerhalb deren Verantwortungsbereich gemeinsame Grundsatzentscheide treffen und somit ohne Hochdelegieren schnell auf akute Anforderungen reagiert werden kann.

Rollen regeln den Verantwortungsbereich. Führung bezieht sich auf Führung durch Know-How und Übernahme von Verantwortung (damit das Team das gemeinsam gesteckte Ziel erreicht) und nicht mehr auf eine disziplinarische Personenführung. Personelles wird je nach Organisation in einer neuen Rolle oder in Form von individuell wählbaren Mentoren verantwortet.

Bei Grundsatzentscheiden wird versucht, nicht die perfekte Lösung oder Planung zu finden, sondern eine, die für den Moment gut genug ist. Da sich externe Umstände ändern und man mit der Zeit dazulernt, macht dieses Vorgehen Sinn, vor Allem auch weil man in der heutigen schnelllebigen Zeit nur sehr schwer auf lange Zeit vorausplanen kann. Getroffene Entscheidungen werden in relativ kurzen Turnussen erneut überprüft.

Selbstorganisation heisst also nicht, dass Chaos herrscht. Selbstorganisation bedingt einen hohen Anteil an Eigenverantwortung und ermöglicht Mitbestimmung – dies eingebettet in gemeinsam beschlossenen Regeln und Strukturen. Macht und Verantwortung wird auf viele Personen verteilt.

 

Wo gibt es sie bereits?

Selbstorganisation lässt sich bereits im Tierreich finden. Fische z.B., die als Schwarm schwimmen und sich bei Gefahr so selbstorganisieren, dass Sie wie ein großer Fisch wirken und den Angreifer einschüchtern. Da gibt es keinen der den anderen Fischen sagt, wie die Anordnung erfolgen muss. Das ist reine Selbstorganisation, die über die Wahrnehmung der Bewegung der anderen Fische funktioniert.

Selbstorganisation

Der bekannte Führungskräftecoach und -berater Frederic Laloux hat etwa 50 Organisationen (darunter auch selbstorganisierte Unternehmen) untersucht und seine Erkenntnisse zu deren Strukturen und Praktiken in seinem Werk “Reinventing Organizations” zusammengefasst. Er beschreibt dort, wie wirkungsvolle, seelenvolle und sinnvolle Organisationen arbeiten und erzählt von hoch motivierten Mitarbeitenden und wandlungsfähigen Organisationen, die in Richtung „Teal“ (eine Entwicklungsstufe bzw. ein Reifegrad einer Organisation) unterwegs sind. Für viele ist diese Buch eine inspirierende Quelle, wie Organisationen anders sein könnten.

 

Selbstorganisation mit Kreisstrukturen

Kreise sind eine Ansammlung von Personen oder Rollen. In der Selbstorganisation sind Kreisstrukturen relativ weit verbreitet. Es gibt meist einen „Allgemeinen Kreis“, wo Informationen zusammenkommen und Grundsatzentscheidungen auf Organisationsebene gemeinsam getroffen werden. Das Wechselwirken von Kreisen funktioniert so, dass jeweils 2 Personen eines Kreises bei Grundsatzentscheidungen des nächst höheren Kreises teilnehmen. Diese doppelte Verlinkung stellt einen überdurchschnittlich hohen Austausch und Informationsfluss über die Teams hinweg sicher. Die hohe Qualität an Informationsfluss gewährleistet gute Entscheidungen.

Gleichzeitig sind die Kreise semi-autonom. Ein Kreis kann jederzeit Unterkreise bilden (Gründe hierfür könnten sein, dass der Ausgangskreis zu groß geworden ist, eine bestimmte Aufgabe zu umfangreich geworden ist, so dass mehrere Rollen sich in einem Hilfskreis um diese Aufgabe kümmern oder sich die Ausrichtung des Ausgangskreises verändert).

Selbstorganisation

Abbildung 1: Aussenkreise
(oft verwendet in Soziokratie)

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Abbildung 2: Innenkreise (Nested Circles)
(oft verwendet in Holacracy®)

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Abbildung 3: Pfirsich-Struktur
(verwendet in Soziokratie 3.0)

Es gibt verschiedene Möglichkeiten Kreisorganisationen auszugestalten und darzustellen. Die Kreisstrukturen in Abbildung 1 und Abbildung 2 sind vom Aufbau her identisch, können allerdings einmal mit Aussenkreisen und einmal mit Innenkreisen (Nested Circkles) dargestellt werden. Abbildung 3 beruht auf einem anderen Konzept. In der Pfirsich-Struktur sind die Aussenkreise in direktem Kontakt mit der Außenwelt und den Kunden, die inneren Kreise sind eine Art zentrale Dienste, welche das Funktionieren der äußeren Kreise ermöglichen.

Im Folgenden möchte ich auf die zwei bekanntesten Kreisstrukturen genauer eingehen – die Soziokratie und die Holakratie (Holacracy®). Diese beiden Modelle haben mehr Gemeinsamkeiten als Unterschiede.

 

Kurzbeschreibung Soziokratie

Die Soziokratie oder SKM (Soziokratische Kreismethode) wurde in den 1970er Jahren in den Niederlanden von Gerard Endenburg entwickelt. Sie basiert auf 4 Grundprinzipien, die es braucht, um Gleichwertigkeit, Transparenz und Mitbestimmung zu gewährleisten und somit ein konstruktives Miteinander zu schaffen. Die vier Basisprinzipien sind: Konsent, Offene Wahlen, Kreisstrukturen und Doppelte Kopplung.

 

Kurzbeschreibung Holakratie

Holakratie oder Holacracy® entstand aus der Soziokratie und bietet eine Organisationsstruktur, innerhalb derer Prozesse und Aufgaben klar geregelt sind. Jeder Mitarbeiter hat innerhalb seiner Rolle und dessen Verantwortungsbereich volle Handlungsfreiheit. Somit können Aufgaben schnell umgesetzt werden.

 

Hier diverse Beispiele an Organisationen aus dem deutschsprachigen Raum, die mit diesen Organisationsmodellen arbeiten:

Holacracy® Soziokratie
soulbottles (D) Europace (D)
Unic (CH) Schmuckatelier Thomas Becker (D)
Stadtwerke Konstanz (D) SoLaWi (D)
Netcentric (CH) PAWI Verpackungen (CH)
Xpreneurs (CH) S.I.E. Solutions (A)
Liip (CH) Soziokratie Zentrum (DACH)
Blinkist (D) Bioland Deutschland (D)
Impact Hub (weltweit) Kinder- und Jugend-Klinik Ravensburg (D)
Business School Lausanne (CH) ITW Integrale Tagesschule Winterthur (CH)
Dwarfs&Giants (A) Privatschule KreaMont (A)
Swisscom (CH) Wohnprojekt POMALI (A)
Ökofrost (D) Zahnklinik Berlin (D)
Telekom (D) Biofisch Gmbh (A)
Freitag (CH) Energiegenossenschaft (CH)
Beratergruppe Neuwaldegg (A) Integrale Politik (CH)
Village Office (CH) Coworking Lounge Tessinerplatz (CH)

 

Wie funktioniert Selbstorganisation?

Die Zusammenarbeit wird durch bestimmte Prinzipien und Strukturen definiert. Macht und Führung ist auf viele Schultern verteilt. Jedes Organisationsmitglied ist in manchen Situationen die Leitung und in anderen Situationen der/die Geleitete.

Bei Soziokratie und Holakratie wird zwischen Grundsatz (auch „Steuerung“ oder „Governance“) und Ausführung (auch „Operativ“ oder „Tactical“) unterschieden.

In der Ausführung tragen Mitarbeitende Verantwortung auf Basis ihrer Rollen. Ihre Aufgaben hängen ebenfalls an Rollen, nicht an Personen. Das heisst, dass eine Person mehrere Rollen ausfüllen kann. Bei Bedarf können Mitarbeiter ihre Rollen abgeben oder neue Rollen annehmen.

Im Governance-Meeting (auch „Kreisversammlung“ oder „Policy Meeting“) wird gemeinsam über grundsätzliche Herausforderungen entschieden. Dies geschieht bei Soziokratie und Holacracy® im Konsent. Diese gemeinsam getroffen Grundsatzentscheidungen geben die Leitplanken für die Ausführung, das Tagesgeschäft.

 

Was bringt es uns, wenn wir uns selbst organisieren?

Schon mal von VUCA gehört? VUCA steht für: Volatility (Volatilität, Unbeständigkeit), Uncertainty (Unsicherheit), Complexity (Komplexität) und Ambiguity (Mehrdeutigkeit). Diese vier Begriffe beschreiben die Herausforderungen, die heute aus dem Wirtschaftsumfeld auf die Organisationen einwirken und deren Geschäft beeinflussen.

Eine pyramidale Struktur mit wenig interagierenden Bereichen braucht für Grundsatzentscheidungen zu lange, da diese Grundsatzentscheidungen oft erst hochdelegiert, dort mit weiteren Personen besprochen werden müssen, entschieden und dann die Info wieder herunterkommuniziert werden muß. Die Gefahr, dass diese Entscheidungen der Chefetage von den betroffenen Mitarbeitern verhältnismässig wenig unterstütz werden ist groß, da diese zu wenig im Entscheidungsprozess involviert waren und die Entscheidung möglicherweise an Bezug zum ursprünglichen Problem verloren hat. Das Ergebnis ist, dass die Mitarbeitenden die Entscheidung mit wenig Motivation oder gar Wiederstand umsetzen.

Eine Selbstorganisation mit verteilter Entscheidungskompetenz ist hier schneller und das Buy-In deutlich höher. Somit kann auf ein sich ständig änderndes Umfeld mit ändernden Anforderungen schnell und adäquat reagiert werden. Die Organisation wird agil und widerstandsfähig.

Mitbestimmung, Vertrauen und Transparenz stärkt das Engagement der Kreismitglieder. Ein/e Angestellte/r kann sich aufgrund seiner Fähigkeiten und Vorlieben verschiedene Rollen aussuchen – ein weiterer Grund für die deutlich höhere Motivation der Mitglieder einer Selbstorganisation.

Durch die Verteilung von Verantwortung entlastet die Selbstorganisation die seitherigen Führungskräfte und kann somit bei Führungskräften Burnout vorbeugen. Selbstorganisation kreiert unternehmerisch denkende und motivierte Mitarbeiter und macht die Organisation bereit für die Anforderungen der VUCA-Welt.

Menschen wollen sich bei ihrer Arbeit entfalten können, Spaß haben und Leistung erbringen. Also werden sich Talente die Arbeitgeber heraussuchen, die ihnen dies bieten können. Mehrheitlich haben selbstorganisierte und agile Organisation mehr Zulauf an Talenten und Fachkräften.

Durch all diese Vorteile steigert das selbstorganisierte Unternehmen seinen Wettbewerbsvorteil.

 

Für wen eignet sich Selbstorganisation?

Selbstorganisation eignet sich für Unternehmen jeder Branche: Die Größe und Sparte ist nicht massgebend, da es sich bei den oben genannten Kreisstrukturen um skalierbare und individuell anpassbare Organisationsmodelle handelt. Sowohl kleine als auch große Unternehmen können sich selbst organisieren -– und tun es bereits.

Vorsicht ist geboten beim Entwicklungs- oder Reifegrad einer Organisation. Nicht jede Organisation sollte sich von heute auf morgen selbst organisieren. Eine Unternehmung, in der die Mitarbeiter noch sehr stark bedacht sind, sich gegen deren Kollegen zu behaupten, sich zu profilieren und für sich alleine zu denken und zu arbeiten, sollte sich erst um die Verbesserung der Unternehmenskultur (= der Nährboden für eine gelingende Selbstorganisation) kümmern, bevor sie sich auf den Weg in eine Selbstorganisation begibt. Eine Analyse der Unternehmenskultur gibt Aufschluss über deren Reifegrad und Ansatzmöglichkeiten zur Entwicklung.

 

Häufige Missverständnisse

# 1 Es gibt keine Hierarchien mehr

Das höre ich oft, allerdings ist das ein großes Missverständnis. Was es nicht mehr gibt, ist Macht über Menschen. Ein/e Mitarbeiter/in muss also nicht mehr aus Angst benachteiligt oder gar entlassen zu werden, sich extra vorsichtig gegenüber Vorgesetzten verhalten, sondern kann diesem auf Augenhöhe begegnen. Angst blockiert unsere Kreativität, vergeudet unsere Energie auf Selbstschutzmechanismen und reduzierte unsere Gehirnleistung. Was es immer noch gibt, ist eine Hierarchie der Arbeit oder anders ausgedrückt eine Hierarchie der Perspektiven: Ein zentraler Kreis kümmert sich um organisationsrelevante Themen, ein eher wertschöpfender Kreis kümmert sich um das konkrete Produkt oder die konkrete Dienstleistung.

# 2 Selbstorganisation artet in Chaos aus

Oft wird Selbstorganisation mit Chaos in Verbindung gebracht. Chaos entsteht dann, wenn es keinerlei Regeln gibt, also z.B. wie in der Anarchie.

Selbstorganisation ist dann erfolgreich, wenn die beteiligten Personen sich zu gemeinsamen Verhaltensregeln, Prozessen und Strukturen committen und diese gemeinsam beschliessen.
Also gibt es in der Selbstorganisation durchaus Regeln. Diese Regeln werden aber nicht von einem Führer bestimmt, sondern von den betroffenen Personen im Kollektiv.

# 3 Dann brauchen wir auch keine Führungskräfte mehr

Ein weiterer Denkfehler ist, dass Unbossing – also das wegnehmen der Führungsstruktur – die Lösung sei. Führung ist nichts Negatives, solange es nicht darum geht, Menschen disziplinarisch zu führen. Wenn es bei Führung um Führung/Anleitung in der Sache, oder um Führung zur Selbstführung geht, ist sie völlig legitim.

Seitherige Führungspersonen haben einen wichtigen Überblick über die sie betreffenden Themen und bringen wichtige Erfahrungen mit. Wenn wir diese Menschen entkräften, verliert die Organisation an überlebenswichtigem Momentum und Kompetenz. Besser ist es, wenn wir die seitherigen Führungskräfte zumindest anfänglich mit der Rolle der Kreisleitung (KoordinatorIn, Lead Link) vertraut machen.

Unbossing kann schnell zum Chaos führen, wenn keine Struktur vorhanden ist, die dies auffangen kann.

# 4 Als CEO muss ich mich nicht um den Prozess kümmern

Wenn Geschäftsführer die Selbstorganisation nur halb wollen oder den Weg dorthin nicht zur „Chefsache“ erklären, ist sie zum Scheitern verurteilt. Ohne das Vorleben und Führen der Organisation in die Selbstorganisation kann es entweder passieren, dass die Selbstorganisation auch vom mittleren Kader nicht so ernst genommen und nicht gelebt wird oder dass ein neuer Geschäftsführer das Amt antritt, bevor die Statuten das Fortbestehen der Selbstorganisation sichern.

 

Fazit

Selbstorganisation ist in aller Munde und das meiner Meinung nach zurecht. So liegen die Vorteile auf der Hand: Entscheidungen, die von allen Beteiligten mitgetragen werden, motivierte Mitarbeitende, die sich einbringen können und wollen, mehr Innovationen, entlastete Führungskräfte und die Attraktivität der Organisation für Talente steigt deutlich. Es gibt auch schon einige Organisation die sich bereits selbst organisieren und noch mehr Organisationen, die sich bereits auf dem Weg befinden.

Selbstorganisation kann verständlicherweise auch beängstigen. Was passiert wohl, wenn wir unsere Struktur verändern? Wie reagieren unsere Mitarbeiter auf die neuen Entscheidungsprozesse und die Verteilung von Verantwortung?

Ein guter Transformationsprozess hat gewisse Stufen. Da jedoch jede Organisation anders ist, muss innerhalb dieser Stufen auch vor allem auf die existierenden Bedürfnisse der Organisation eingegangen werden, damit die Transformation erfolgreich verläuft. Sie sollte jedenfalls gut vorbereitet, geplant und begleitet werden, um den Mitarbeitenden die Antworten auf deren Fragen zu geben und die Selbstorganisation erst mal erleben zu können. Achtung: Ein Selbstversuch mit einer Transformation bürgt große Risiken. Das ist wie ein Versuch, sich selbst zu coachen – es geht ein Stück weit, aber meist nicht tief und nachhaltig.

 

Bitte schreiben Sie Kommentare mit Ihrer eigenen Erfahrung zu Selbstorganisation oder Feedback und Ihre Meinung zu diesem Artikel.

Ich freue mich von Ihnen zu lesen.

 

 

Ihr Thorsten Scherbaum