Artikel über Soziokratie gibt es schon einige.
Ich möchte in diesem Artikel für Neulinge auf die Grundlagen eingehen und zugleich andere Aspekte der Soziokratie beleuchten und meine Freude und Motivation für dieses effektive und wohlwollende Organisationsmodell mit euch teilen.
Soziokratie Definition – Soziokratie einfach erklärt
Soziokratie Bedeutung
Das Wort Soziokratie setzt sich aus “Socius” + ”kratein” zusammen.
“Socius” (lat.) steht für “Gefährten”, oder „die, die miteinander arbeiten”, “kratein” (griech.) steht für “regieren”. Also, die, die miteinander arbeiten, haben die Entscheidungskompetenz für deren Belange. Der Begriff Soziokratie sagt also schon aus, daß Entscheidungen dort getroffen werden, wo das Problem auftritt.
Zum Vergleich: Die Autokratie ist die Alleinherrschaft (so wie in den meisten Organisationen praktiziert) und die Demokratie ist die Herrschaft von Volksvertretern.
Kreis- statt Personenhierarchie
Der Unterschied von einer Kreishierarchie zu einer Personenhierarchie ist, daß die Verantwortung und die Macht, die in klassischer Linienführung bei einer Person geballt ist, in der Soziokratie auf mehrere Schultern verteilt wird.
Dies bedeutet Entlastung der Führungspersonen und gleichzeitig Beteiligung und Empowerment der anderen Kreismitglieder.
Wenn es mehrere Kreise gibt (ähnlich wie im Titelbild), gibt es auch immer einen zentralen Kreis, bei dem alle Informationen zusammen laufen. Dort werden auch Grundsatzentscheide getroffen, die die Organisation betreffen. Die Hierarchie der Kreise bezieht sich also auf den Bereich, über den die Kreise entscheiden können. Der zentrale Kreis – auch „Allgemeiner Kreis“ genannt – entscheidet auf Organisationsebene und z.B. ein Marketingkreis entscheidet im Bereich Marketing.
Führung und Macht in der Soziokratie
So sind auch die Aufgaben einer Führungskraft anders. In der Linienführung trifft sie weitreichende Entscheidungen alleine, moderiert Sitzungen, berichtet ihrem*r Vorgesetzten über die Fortschritte ihrer Abteilung und soll gleichzeitig die Interessen seines Teams im Auge behalten, usw. Aufgrund der Machtballung und letztendlich auch der Macht, die eine Führungskraft über ihre Mitarbeitende hat (nämlich diesen zu kündigen), fallen manche Mitarbeitende ins Kind-Ich – ein Verhalten, das aufgrund der Macht der Führungskraft meist angepasst, konform und zustimmend ist.
Die soeben beschriebenen Aufgaben (und damit auch Macht) der Führungskraft sind in der Soziokratie auf mehrere Rollen verteilt. Die Kreisleitung sorgt für die Zielerreichung, der/die Delegierte für die Vertretung des unteren Kreis im nächsthöheren Kreis, die Gesprächsleitung für die Moderation von Kreisversammlungen. Durch die Machtverteilung in der Soziokratie (und da jemanden aus dem Kreis oder der Organisation ausschliessen eine Teamentscheidung ist) können Menschen leichter aus dem Kind-Ich heraus kommen und ihre Potenziale freier entfalten. Dies auch, weil nun mehrere Personen über die auf verschiedene Rollen verteilte Macht Verantwortung übernehmen können.
Die Soziokratie ist aber kein führungsloses Organisationsmodell. Führung in der Soziokratie bezieht sich vielmehr auf Führung in der Sache, als auf Führung von Personen.
Grundsatz und Ausführung
In der Soziokratie entscheidet man zwischen Grundsatz und Ausführung.
Grundsatz sind die Belange, die alle betreffen, oder Belange, die allen wichtig sind. Deshalb braucht es hier auch eine Entscheidung, bei der alle involviert sind. Grundsatzentscheide werden im Konsent getroffen.
Ausführung sind Tätigkeiten oder Entscheidungen, die nicht in der Gruppe getroffen werden müssen. Hier wird bilateral oder in der Arbeitsgruppe besprochen und entschieden. Es braucht keinen Konsent.
Ablauf einer soziokratischen Grundsatzentscheidung
Nehmen wir an, im Marketing-Team kommt auf, daß es eine neue Zielgruppe gibt, die man seither noch nicht angesprochen hatte.
Die Person, die das festgestellt hat, setzt das Thema auf die Themensammlung für die nächste Kreisversammlung (=Entscheidungsorgan für Grundsatzentscheide).
In der Kreisversammlung sind die Mitglieder des Kreises anwesend. Gemeinsam wird beleuchtet, wie sich das Problem auf die Organisation, den Kreis und die Kreismitglieder auswirkt. Danach werden gemeinsam Lösungsvorschläge erarbeitet, diese im Gruppenprozess weiterentwickelt und ggf. zu einem finalen Lösungsvorschlag kombiniert. Nun kann das Team gemeinsam über die Annahme des Vorschlags entscheiden. Es werden dann die Arbeitspakete verteilt und mit Terminen versehen, so daß jeder weiß, wie es weiter geht und die neue Zielgruppe zukünftig adressiert wird.
Der Prozess kann auch abgekürzt werden, indem die Ausgangslage und die Lösungsvorschläge vorab ausgearbeitet wurden (z.B. von einer Person oder einer Arbeitsgruppe).
Warum mich die Soziokratie so begeistert
Ich habe als Mitarbeiter selbst erlebt, wie frustrierend es sein kann, wenn man nicht gehört wird, oder vor vollendete Tatsachen/Entscheidungen gestellt wird.
Und ich habe als Führungskraft erlebt, wie schwierig es sein kann, weitreichende Entscheidungen alleine treffen und verantworten zu müssen.
Die Soziokratie spricht mir aus dem Herzen. Es gibt niemanden, der Befugnis und Macht über andere hat.
Ich habe Freude an guten Kooperationen, der Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft/Gruppe und an Augenhöhe im Miteinander. Und das erlebe ich in der Soziokratie.
In einem gemeinschaftlichen Prozess werden Lösungen für Probleme erarbeitet und danach umgesetzt.
Aus diesem Grund engagiere ich mich auch unentgeltlich im Soziokratie Zentrum Schweiz, um diese Methode weiter zu verbreiten.
Warum Soziokratie? (Nutzen)
Jeder wird gehört, Schwarmintelligenz bringt bessere Lösungen hervor
In herkömmlichen Meetings gehen ruhigere Personen eher unter, da sie nicht einfach laut werden wollen oder anderen ins Wort fallen wollen. Da die Moderation in Kreisversammlungen einer Person nach der anderen das Wort gibt, kann jede ihre Ideen und Meinungen äußern. Alle anderen hören zu und werden dadurch womöglich noch inspiriert, gehörte Ideen weiterzuentwickeln.
Eigenverantwortung wird gefördert
Eigenverantwortung auf Kreisebene: Da jeder Kreis seinen eigenen Entscheidungsbereich (=Domäne) hat, ist er auch selbst verantwortlich für dessen Entscheidungen und Umsetzungen. Entscheidungen werden nicht mehr einfach nur hochdelegiert, sondern werden direkt von den Betroffenen gefällt (was wiederum ein Zeit- und Ressourcengewinn ist).
Eigenverantwortung auf Personenebene: Sich selbst eine Meinung zu bilden und über einen Lösungsvorschlag zu entscheiden fördert die Eigenverantwortung. Einen Lösungsvorschlag zu stoppen, wenn alle anderen ihn umsetzen würden, fördert, daß die individuellen Kreismitglieder Verantwortung für ihre eigene Meinung und den Entscheidungsprozess übernehmen.
Echte Mitbestimmung führt zu höherer Identifizierung mit dem Team und der Organisation
Wenn Menschen ein wertgeschätzter Teil einer Gemeinschaft sind, dann können sie sich besonders gut mit der Gemeinschaft identifizieren. Meist ist die Identifikation mit der Organisation mit autokratischer Führung nicht hoch, da Mitarbeitenden u.a. zu wenig Vertrauen geschenkt wird und sie in weitreichende Entscheidungen nicht einbezogen werden.
In der Soziokratie sind Menschen nicht nur in Entscheidungsprozesse involviert, sondern können auch selbst aktiv mitentscheiden. Das ist ein hohes Maß an Wertschätzung, wenn jemandem Entscheidungskompetenz zugetraut wird.
Hohes Buy-In durch Transparenz
Wenn Menschen zusammen entscheidungen treffen, ergründen sie zuerst das Ausmaß, das das Problem annimmt. Danach erarbeiten sie Lösungsvorschläge und entscheiden sich für die vielversprechendste Lösung.
Dieser Prozess erzeugt eine hohe Transparenz. Einerseits eine Transparenz der getroffenen Entscheidung selbst, aber mindestens genauso wichtig eine Transparenz über die Hintergründe und den Prozess bis zum Lösungsvorschlag. Das Ergebnis ist, daß in der Gruppe getroffene Entscheidungen das Buy-In erhöhen und zudem noch die Umsetzung beschleunigen, weil niemand mehr einfach nur ausführt, ohne das „Warum“ verstanden zu haben.
mit dem Konsent wird die Entscheidungsfreudigkeit von Gruppen gesteigert
Der Konsent (dagegen habe ich keinen Einwand) erzeugt bei mehreren Beteiligten eine größere Schnittmenge an möglichen Lösungen, als wenn wir davon ausgehen, daß jeder seine Lieblingslösung hätte und diese durchboxen wollte.
Das Bild zeigt ein mögliches Handzeichen für den Konsent.
Verschiedene Formen: Soziokratie und Soziokratie 3.0
Soziokratie 3.0 ist eine abgewandelte Form der “klassichen” Soziokratie (SKM) nach Gerard Endenburg.
James Priest, Bernhard Bockelbrink und später auch Liliana David haben Elemente aus der Soziokratie, Holakratie und agilen Methoden genommen und diese in ein Baukastensystem gepackt.
Es gibt beinahe 70 “Patterns”, die wie Puzzleteile zueinander passen und sich ergänzen.
Vorteile: Man kann einzelne Elemente ausprobieren und erste Erfahrungen damit sammeln.
Nachteile: Es kann sein, dass bei Anwendung einzelner Elemente der gewünschte Effekt ausbleibt und schlimmstenfalls Frustration gegen Wandel und Soziokratie aufkommt.
Wie funktioniert Soziokratie?
Die 4 Basisprinzipien und deren Effekt
Was ist das? | Welche Wirkung hat es? | |
Konsent | Entscheidungsmethode: ich habe keinen Einwand gegen die vorgeschlagene Lösung. Es ist möglich, daß es nicht meine Lieblingslösung ist, aber ich kann die Umsetzung der Lösung trotzdem mitverantworten/mittragen. | mehrere Menschen finden schnell einen gemeinsamen Nenner |
Kreisprinzip | Organisationsstruktur mit Kreisen (ähnlich wie im Titelbild) anstatt Einzelpersonen. | Keine Autokratie, keine Willkür sondern semi-autonome Kreise mit gemeinsamem Ziel → keine Silos |
Doppelte Kopplung | 2 Personen (Kreisleitung und Delegierte*r) verbinden zwei Kreise. Sie sind bei Grundsatzentscheidungen beider Kreise anwesend. | Besserer Informationsfluß zwischen den Kreisen. Bedürfnisse der eigenen Kreismitglieder werden in den Kreisversammlungen des anderen Kreises gewahrt. |
Offene Wahl | Rollen werden durch eine offene Wahl mit Personen besetzt. Die Wahl ist nicht geheim, sondern jede*r erzählt, wen er/sie nominiert hat und aus welchem Grund. | gegenseitige Inspiration und Weiterentwicklung der Ideen. Keine Kampfabstimmung! Anstatt dessen wird Wertschätzung offen ausgesprochen, wenn jemand seine/ihre Nomination begründet. |
Die Haltung des Konsents – Experimente und kein Perfektionismus
Konsent = Abwesenheit von Einwänden
Wenn niemand einen schwerwiegenden Einwand gegen einen Lösungsvorschlag hat, dann haben wir einen gemeinsamen Nenner gefunden.
In einer Gruppe wird leichter ein gemeinsamer Nenner gefunden, wenn man fragt, wo niemand was dagegen hat, als wenn man fragt, was jede*r einzelne am liebsten hätte.
Sicher genug, es auszuprobieren
Wir wissen nicht, was die Zukunft bringt. Wer hätte vor Ausbruch und Bekanntwerden des Corona-Viruses Covid-19 gedacht, daß sich die Welt so schnell und so drastisch verändern würde?
Die Märkte waren allerdings schon vor Corona instabil und unsicher (Stichwort VUCA).
Meist wissen wir einfach nicht, wie die Zukunft und das Ergebnis sein wird, wenn wir es nicht wirklich ausprobieren.
Warum sollen wir uns also mit unserer Entscheidung für die nächsten 5 Jahre festlegen, wenn sich unser Umfeld so schnell verändert?
Aus diesem Grund ist eine Konsententscheidung befristet. Wir setzen Lösung A z.B. ein halbes Jahr lang um, und evaluieren spätestens dann wieder, wohin uns das gebracht hat und ob wir den Weg weitergehen oder unsere Richtung verändern wollen.
“Sicher genug es auszuprobieren” bedeutet, daß wir uns zugestehen, nicht alles wissen zu können, und deshalb eine für uns sichere Lösung mit einer für uns sicheren Evaluationsfrist wählen, um agil zu bleiben.
TRUST!
Gut genug für den Moment
“Gute genug für den Moment” bedeutet, es muss nicht perfekt sein und auch nicht für ein Leben lang andauern.
Es bedeutet, daß wir uns auf etwas einlassen können, ohne es perfekt und übergründlich ausgearbeitet haben zu müssen. Hier ein paar Beispiele:
- Listen müssen nicht immer vollständig sein.
- Ausarbeitungen müssen nicht immer bis ins kleinste Detail ausgearbeitet sein.
- Lösungen müssen noch nicht perfekt sein.
„Gut genug für den Moment“ nimmt uns den Druck, aus Angst vor einer Fehlentscheidung alles übergründlich und perfekt ausarbeiten und die Probleme der Zukunft antizipieren zu müssen.
Denn all das blockiert uns in unserer Entscheidungsfreudigkeit und Umsetzungsgeschwindigkeit.
Auch hier ist die Evaluationsfrist oder Gültigkeitsdauer (siehe Bild) einer Entscheidung unser Freund.
Denn mit ihr dürfen wir einen eigens festgelegten Zeitraum über experimentieren und wissen, daß wir danach wieder neu entscheiden und unsere seitherige Lösung ggf. noch anpassen können.
RELAX!
Für wen ist die Soziokratie – und für wen nicht?
Die Soziokratie kann man mittlerweile überall finden – in Wirtschaftsunternehmen, Schulen, Pflegehäusern, Spitälern, Beratungsunternehmen, Vereinen, Genossenschaften, Wohngemeinschaften, …
Das sind ja fast schon alle, oder?
Soziokratie ist nicht für Organisationen, die noch nicht reif für einen Paradigmenwechsel sind.
Soziokratie ist nicht für Geschäftsführer und Inhaber, die gerne etwas Agiles hätten, weil es gerade Mode ist, oder die nicht bereit sind, an sich selbst zu arbeiten.
Soziokratie Kritik
Der Name
Begriff Soziokratie verleitet viele dazu, zu denken, daß sie nur für soziale Wohnprojekte und NGOs geeignet ist. Das ist aber nicht der Fall. Sie ist für jegliche Art von Organisation umsetzbar.
Freiheiten vs. Vorlagen
Die Soziokratie ist ein sehr offenes, freies „Betriebssystem“. Es gibt nur die 4 Basisprinzipien die Bedingung zur erfolgreichen Anwendung der Soziokratie sind.
Auf der einen Seite ermöglicht ein so hohes Maß an Freiheit viel Gestaltungsspielraum für eigene Prozesse, auf der anderen Seite braucht es Zeit diese eigenen Prozesse erst noch zu entwickeln.
Die Holakratie z.B. hat bereits schon mehr Prozesse vordefiniert, wodurch weniger selbst und neu entwickelt werden muss, dafür aber einschränkend sein kann.
Ego und Emotionen
Ich habe auch schon gehört, daß die Soziokratie nicht effizient sein kann, da ja jeder mit seinem Ego oder seinen Emotionen eine Entscheidung blockieren kann.
Das würde passieren, wenn jemand seine eigenen Interessen über die Interessen, des Kreises stellt, was äußerst selten vorkommt.
Natürlich haben wir Menschen Emotionen und lassen uns auch mal von unserem Ego leiten. Allerdings sehe ich auch das als Vorteil.
In der Soziokratie dürfen wir unser Ego und unsere Emotionen mitbringen. Ein*e gute*r Moderator*in kann dies als Chance nutzen und genau hinhören, was in dieser Person vorgeht und evtl. welche unerfüllten Bedürfnisse hinter ihrem Verhalten stecken. So können sogar schwelende Konflikte und Missverständnisse, die die Zusammenarbeit schon seit langem lähmen an die Oberfläche gebracht und gelöst werden. Das wäre nicht möglich, wenn wir unsere Emotionen und unser Ego beim Betreten der Organisation zurücklassen müssten.
Wenn Sie Fragen haben oder gerne etwas kommentieren möchten, freue ich mich über Ihren Beitrag.